Mit Sorgen beobachten wir, wie die Schweiz je länger je mehr zu einem alle Lebensbereiche ihrer Bürger regulieren wollenden Nanny- und Therapeutenstaat abgleitet.
«Schlusspunkt»-Kolumne von Anian Liebrand, erschienen in der «Schweizerzeit» am 14. Januar 2022
Das Problem ist nicht nur bei geltungssüchtigen Politikern und dem Verwaltungsapparat zu verorten. Auch die Geisteshaltung der «Zivilgesellschaft» – Bürger, Interessengruppen, Verbände – hat sich fundamental gewandelt. Sie bemüht den Staat laufend, um immer neue Fragen des Zusammenlebens per Gesetz zu klären.
Das jüngste Beispiel ist die Volksinitiative «Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung», über die wir am 13. Februar abstimmen. Hinter der Initiative stehen unter anderem die Krebsliga und Lungenliga, sowie Sport- und Jugendverbände. Sie verlangt, dass der Bund «jede Art von Werbung für Tabakprodukte verbietet, die Kinder und Jugendliche erreicht» und geniesst grosse Sympathien. Der Standpunkt, dass Kinder keinen Tabak konsumieren sollten und Rauchen ungesund sei, ist unbestritten. Der Ansatz, dass dieses Ziel nur mit einem faktischen Werbeverbot für eine ganze, völlig legale Produkte verkaufende Branche erreicht werden kann, ist dagegen ein geistiges Armutszeugnis.
Dass Lobbyisten staatliches Recht in ihrem Sinne beeinflussen wollen, ist nicht neu. Ein eher neueres – und im Kern zutiefst unschweizerisches – Phänomen ist hingegen, dass der Ruf nach dem Staat heute von breiten Gesellschaftsschichten als völlig normal und oft als der erstbeste, logische Problemlösungsschritt angesehen wird. Mit dieser Degenerierung eng verbunden: Immer weniger Menschen sehen sich verpflichtet, direkt Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und delegieren sie lieber an ein übergeordnetes Kollektiv – statt «selber vor die Haustüre zu treten und nachzusehen, was es gibt» (Gottfried Keller).
Es ist paradox: 16-Jährigen soll neu das Stimm- und Wahlrecht zugestanden werden – gleichzeitig wird ihnen aber die Unmündigkeit unterstellt, von (bereits heute nur eingeschränkt verfügbarer) Tabakwerbung zum Rauchen verführt zu werden… Welche Aufgaben soll sich dieser Staat eigentlich noch aneignen? Auch zu viel Alkohol, Fett oder Zucker können gesundheitsschädigend sein – müsste man dann konsequenterweise nicht auch Werbung für Bier, Mc’Donalds oder Haribo einschränken?
Der Staat als «Volkserzieher», der uns allen «den rechten Weg» weist und jeden Aspekt unseres Lebens regelt? Nach einem Ja zum Tabakwerbeverbot werden wir dieser Horrorvision ein weiteres Stück näher sein.