Das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern publizierte am 22. April 2024 eine siebzig Seiten umfassende Studie zur «Arbeitsmigration in die Schweiz». Was von den klassischen Forumsmedien bislang weitgehend totgeschwiegen wird, hat das Potenzial, die bereits seit längerem wackelnden Personenfreizügigkeits-Mythen endgültig zum Einsturz zu bringen. Die Ökonomen bestätigen nämlich in weiten Teilen die Warner vor der unkontrollierten Masseneinwanderung: Die Personenfreizügigkeit schadet mehr als sie nützt.
«BRISANT»-Kolumne von Anian Liebrand, erschienen auf «schweizerzeit.ch» am 26. April 2024
Die Autoren des Instituts für Wirtschaftspolitik widmen sich in ihrer Studie der Frage, «ob der Nutzen der Zuwanderung für Staat und Gesellschaft insgesamt überwiegt.» Aufgrund der vertieften Auseinandersetzung mit relevanter Literatur zur Arbeitsmigration kommen Prof. Dr. Christoph A. Schaltegger, Dr. Marco Portmann und MA Joel Gysel dabei zu mehreren brisanten Schlüssen1:
Erkenntnis Nr. 1: Geringer Wohlstandsgewinn pro Kopf
«Die Personenfreizügigkeit steigert insgesamt die Wertschöpfung in der Schweiz. Blickt man aber auf den Wohlstandsgewinn pro Kopf, so fällt dieser gering aus. Das Schweizer BIP pro Kopf ist seit dem Jahr 2000 inflationsbereinigt um 23 % gestiegen. Damit liegt die Schweiz im europäischen Mittelfeld. Andere Länder wie Deutschland haben im selben Zeitraum ein ähnlich hohes BIP-pro-Kopf-Wachstum bei deutlich tieferer Zuwanderung erreicht.»
Erkenntnis Nr. 2: Zuwanderung löst weitere Zuwanderung aus
«Die hohe Zuwanderung bringt viele Fachkräfte in die Schweiz. Zugleich vermochte sie den Mangel an Fachkräften nicht zu beseitigen, sondern hat ihn verstetigt. Studien zeigen, dass für jede bei einem exportorientierten Unternehmen geschaffene Stelle für eine zugewanderte Fachkraft 0.6 bis 1.4 Stellen im lokalen Gewerbe neu entstehen. Jede Zuwanderung benötigt also weitere Zuwanderung, weil der Konsum der Neuzuzüger die Nachfrage zusätzlich erhöht.»
Erkenntnis Nr. 3: Zuwanderung rettet unsere Altersvorsorge nicht
«Die Zuwanderung trägt derzeit zur Linderung der strukturellen Probleme der AHV bei. Sie stellt jedoch keine langfristige, dauerhafte Lösung für die Altersvorsorge dar. Über den gesamten Lebenszyklus hinweg beziehen die meisten Personen mehr Leistungen aus der AHV, als sie selbst zu deren Finanzierung beigetragen haben: Pro Franken an Lohnbeiträgen erhalten EU-/EFTA-Bürger 1.76 Franken, übrige Zuwanderer über zwei Franken und Schweizer 1.83 Franken Rente.»
Weitere Kernaussagen der Studie2:
- Es gibt Schätzungen, die zeigen, dass ein sehr gut qualifizierter Zuwanderer einen oder zwei weitere Zuwanderer nachzieht (Fontana, 2023; Siegenthaler et al., 2016). Zumal die Zuwanderung auch Kosten hat (siehe unter anderem Thesen zu den Überfüllungseffekten), sollte diskutiert werden, ob Produktivitätsgewinne nicht auch mit einer selektiveren Zuwanderung realisiert werden können.
- Das Schweizer Sozialsystem ist heute auf grenzenloses Wachstum ausgerichtet und angewiesen. Die von der AHV ausgezahlten Renten betragen im Durchschnitt bei Schweizern 183% und bei Ausländern 193% der Einzahlungen (Favre et al., 2023). Die Einzahlungen in die AHV finden in den jungen Jahren, die Auszahlungen im Alter statt. Die AHV bleibt deshalb mit den heutigen Beitragssätzen nur finanzierbar, wenn die Bevölkerung wächst.
- Die Aussicht, nach Belieben auf dem europäischen Arbeitsmarkt zu rekrutieren, ist weder dem Ausschöpfen des inländischen Arbeitskräftepotentials, den Investitionen in die Automatisierung noch dem Strukturwandel hin zu wertschöpfungsintensiveren Branchen zuträglich.
Dogma der Personenfreizügigkeit rüttelt
Die Luzerner Übersichtsstudie ist eine wahre Fundgrube für viele relevanten Folgen der Zuwanderung in die Schweiz. Die Autoren halten zwar fest, dass die Personenfreizügigkeit – und damit die rein arbeitsmarktgesteuerte Zuwanderung – der Schweiz durchaus mehr Fachkräfte gebracht habe, die von der Wirtschaft angefordert wurden. Sie graben aber tiefer und rütteln damit am Dogma der «unantastbaren» Personenfreizügigkeit. Die Autoren versuchen vielmehr, ein ganzheitliches Bild zu zeichnen und Auswirkungen auf den Sozialstaat oder die Nutzung der öffentlichen Infrastruktur mit einzubeziehen. Genau auf solch eine vertiefte Befassung haben Wahrheitssuchende lange gewartet!
Seit der Unterzeichnung des Freizügigkeitsabkommens mit den EU/EFTA-Staaten im Jahr 2002 ist die ausländische Wohnbevölkerung in der Schweiz um 1,2 Millionen Menschen gewachsen. Teile der Wirtschaft mögen zwar von der vereinfachten Rekrutierung ausländischen Personals (Drittstaaten nicht eingerechnet!) profitiert haben. Der Preis, den unser Land für ein bescheidenes Pro-Kopf-Wohlstandswachstum bezahlt hat, ist aber hoch: Wohneigentum ist kaum noch bezahlbar, die Strassen dauerverstopft, die Züge überfüllt, die Schulen sind am Anschlag! Kurz: das Land platzt aus allen Nähten, die gefühlte Lebensqualität vieler Bürgerinnen und Bürger nimmt ab.
Meinungsumschwung bei Economiesuisse und Co.?
Bemerkenswert ist, dass mittlerweile selbst Verbände wie die Economiesuisse – ein Zusammenschluss bedeutender Schweizer Unternehmen, der all die Jahre mobil gemacht hat für die Personenfreizügigkeit – einwanderungsskeptische Töne anschlagen. Economiesuisse-Präsident Christoph Mäder sagte im Schweizer Fernsehen, dass die allgemeine Befindlichkeit zeige, dass die Schweiz «eine zu hohe und zu schnelle Zuwanderung» erlebe. Er glaube, «wir haben eine gewisse Grenze überschritten». Daher könne man nicht mehr der grenzenlosen Zuwanderung das Wort reden, sondern man müsse respektieren, dass es Massnahmen brauche. Sind diese Offenbarungen der Economiesuisse etwa ein Vorbote eines allgemeinen Stimmungsumschwungs, der es möglich macht, neue Mehrheiten für eine Begrenzung der Zuwanderung zu finden?
Der oft beschworene Leidensdruck, der nötig sei, um im Volk ein breites Umdenken auszulösen, lässt sich jedenfalls nicht mehr leugnen. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Zuwanderungs-Studie des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik weite Kreise zieht – so lange, bis sie sich vom helvetischen Medien-Mainstream nicht mehr länger totschweigen lässt.
1 Quelle: https://www.iwp.swiss/arbeitsmigration-in-die-schweiz-eine-einordnung-aktueller-erkenntnisse/
2 Quelle: https://admin.iwp.swiss/wp-content/uploads/2024/04/qa_migration_text-2024_04_22.pdf (Kapitel 7, Konklusion und Einschätzung der Autoren, Seite 67 ff)