Nichts gelernt?

Es herrscht wieder Krieg in Europa – und wie immer gibt es dabei fast nur Verlierer. So manche Sorgen, die wir tagtäglich mit uns herumschleppen, werden auf einen Schlag relativiert. Grundsätzliches rückt wieder in unser Bewusstsein. Endlich beginnen Angehörige meiner Generation, sich tiefgründige Gedanken zu machen.

«Schlusspunkt»-Kolumne von Anian Liebrand, erschienen in der «Schweizerzeit» am 11. März 2022

Ich für meinen Teil denke in diesen Tagen unablässig an meine liebe verstorbene Grossmutter, die den Zweiten Weltkrieg und seine unfassbaren Entbehrungen noch hautnah miterlebte. «Nichts ist so teuer wie Krieg», rief sie mir jeweils vom Herd zu, als ich mich – wenn ich bei ihr zu Besuch war – jeweils über politische Versäumnisse aufregte, von denen ich in der Zeitung an ihrem Küchentisch gelesen hatte. Sie hatte so was von Recht: Keine Misswirtschaft, kein Postenschacher, keine ideologischen Prestigeprojekte – in der Tat ist nichts so teuer, nichts so schlimm wie Krieg.

Als Angehörige der Nachkriegsgeneration können wir nur erahnen, was der Schrecken eines Kriegs im eigenen Land für die – leider nach und nach aussterbende – Erlebnisgeneration bedeutet haben muss. Insofern bin ich stolz darauf, dass ich viel Zeit mit Zeitzeugen verbringen und mir viele Berichte aus erster Hand erzählen lassen durfte. Speziell allen, die nach dem Fall der Berliner Mauer auf die Welt gekommen sind, kann ich nur empfehlen, sich Geschichte nicht nur einseitig gefärbt aus der Schule auftischen zu lassen, sondern sich selbst auf Wahrheitssuche zu begeben.

Das Bildungsbürgertum in unseren Breitengraden sieht sich gerne als wahnsinnig aufgeklärt an – dabei hätte es noch viel Geschichtsunterricht nötig. Je selbstverständlicher in diesen Tagen alle, die etwas auf ihr Ansehen geben, ihre Solidarität mit der Ukraine herausposaunen, desto tiefer verankert sind leider – gerade in «Gutmenschen-Kreisen» – nach wie vor niedere Ressentiments.

Wir lesen, dass nun bei uns lebende Russen offen angefeindet und russische Geschäfte boykottiert werden. In einigen Nachbarländern stehen Russen unter Generalverdacht und verlieren sogar ihre Jobs. Nur weil sie Russen sind – und obwohl sie rein gar nichts für den Kriegsausbruch können. In Funk und Fernsehen fliegt es uns pausenlos um die Ohren: Alles, was irgendwie russisch ist, gehört nun sanktioniert und ist zu ächten. Entspricht solches Gebaren ernsthaft dem so oft beschworenen europäischen Geist der Aufklärung – oder haben wir noch immer nichts aus der Geschichte gelernt?

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Anian Liebrand
Anian Liebrand
Geboren 1989 in Fribourg. Aufgewachsen in Beromünster LU. Nach Abschluss der kaufmännischen Berufsmatura diverse praxisnahe Weiterbildungen, u.a. im Marketing. Von 2014 bis 2016 Präsident der Jungen SVP Schweiz. Heute in verschiedenen Funktionen für unterschiedliche Parteien und Organisation tätig. 2020 Gründung der Politagentur.ch GmbH als deren Geschäftsführer.

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