Stirbt ein lieber Mensch, hinterlässt er bei seinen Angehörigen und Freunden eine grosse Lücke. Der Tod gehört bekanntlich zum Leben – und das Leben steht mit dem Tod in Verbindung. Dies so weit die grundsätzliche, philosophische Feststellung.
Nach dem physischen Ableben können sich für Hinterbliebene ganz entscheidende Fragen stellen: Wie wird ein allfälliges Erbe verteilt, gibt es ein Testament, in welchem Rahmen findet die Beerdigung statt – und wie kann dem letzten Willen des Verstorbenen bestmöglich entsprochen werden? Dies alles sind zutiefst persönliche Fragestellungen, mit denen wir alle im Laufe unseres Lebens konfrontiert werden können.
Zutiefst persönliche Angelegenheit
Eine weitere zentrale, ganz persönliche Angelegenheit ist die Frage, was mit dem Körper eines Verstorbenen passieren soll. Vielleicht haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht: Sind Sie einverstanden damit, dass Ihnen nach Ihrem Ableben Organe entnommen werden? Und wie stehen eigentlich Ihre Nächsten zum Thema Organspende? Bin ich, ist mein Umfeld dafür oder dagegen – sagen wir Ja oder Nein in dieser persönlichen Frage, die unsere Existenz auf ganz intime Art betrifft?
Vielschichtige Fragestellung
Das ethisch höchst brisante und vielschichtige Thema der Organspende, das bisher für viele einen rein privaten Charakter hatte, wird im Rahmen einer eidgenössischen Volksabstimmung vom 15. Mai 2022 nun zum Politikum. Bundesrat und Parlament haben im vergangenen Oktober nämlich einen Paradigmenwechsel beschlossen: Weg von der Zustimmungsregelung – hin zur Widerspruchsregelung. Weil dagegen erfolgreich das Referendum ergriffen wurde, kommt es nun zur Abstimmung. Es wird also Zeit, sich mit diesem Thema – das uns alle betreffen kann – auseinanderzusetzen.
Bis anhin galt in der Schweiz bei Organentnahmen die «erweiterte Zustimmungslösung». Organe durften einer Person nur entnommen werden, wenn diese oder die Angehörigen der Entnahme zugestimmt hatten. Das neue Transplantationsgesetz soll nun einem fundamentalen Paradigmenwechsel das Feld ebnen. Neu soll die «Widerspruchsregelung» gelten: Jede Person, die nicht zu Lebzeiten einer Organspende widersprochen hat, wird automatisch zum Organspender.
Es geht nicht um Pro und Contra Organspende
Für mich ist unbestritten, dass eine Erhöhung der Organspender-Zahlen erwünscht ist und dass Organspenden Leben retten können. Darum möchte ich auch festhalten: Es geht bei der vorliegenden Abstimmungsvorlage nicht um die Frage «Pro oder Contra Organspende?», wie dies die Befürworter der Widerspruchsregelung gerne vermitteln wollen. Es geht lediglich um die Regelung der Organgewinnung.
Schweigen heisst nicht Zustimmung
Die Widerspruchsregelung ist für mich ein inakzeptables Mittel, weil sie medizinethische und verfassungsrechtliche Grundsätze verletzt. Sie wertet das Schweigen der Menschen als automatische Zustimmung. Aus medizinischethischer Betrachtung ist aber klar: Schweigen heisst nicht Zustimmung! In aufgeklärten Gesellschaften gehört der eigene Körper zum Privatesten, was der Mensch hat. Jede Person hat das Recht, alleine zu entscheiden, was mit ihrem Körper passiert. Daher verlangt die medizinische Ethik, dass zu jeder medizinischen Handlung, selbst zu einer Blutentnahme oder Impfung, eine ausdrückliche Zustimmung («informed consent») eingeholt wird. So ist es üblich, dass es bei grösseren Eingriffen sogar eine Unterschrift braucht.
Die Organentnahme (Explantation) ist eine der grössten am Menschen durchgeführten Operationen. Ethisch vertretbar ist die Explantation nur, wenn die betroffene Person zu Lebzeiten ihre ausdrückliche Zustimmung gegeben hat. Der Staat darf Sterbende nicht wie ein Ersatzteillager behandeln und sich bedienen, ohne gefragt zu haben. In unserer westlichen Zivilisation sind Selbstbestimmung und einvernehmliches Zusammenleben zentrale Werte, die nicht über den Haufen geworfen werden dürfen. Bereits Kindern lernt man, dass sie fragen müssen, wenn sie etwas haben wollen. Nicht von ungefähr lautet die prominente Losung von Frauenrechtlerinnen: «Mein Körper, meine Entscheidung». Im Internet müssen wir bei jedem Aufruf einer Website unsere Zustimmung zur Datenschutzerklärung ausdrücken. In unserem Alltag müssen wir tagtäglich unzählige Einverständniserklärungen abgeben, beispielsweise beim Abschluss von Verträgen oder dem Eröffnen eines Bankkontos. Weshalb sollten unsere Körper weniger schützenswert sein als unser Bankkonto?
Der Staat darf bei grossen Eingriffen in den Körper seiner Bürger Schweigen niemals als Zustimmung werten. Dies dürfte nicht zuletzt auch im Sinne von Organempfängern sein – sie hätten Gewissheit, dass das erhaltene Organ als Folge eines bewussten Entscheids gespendet wurde.
Alle Einwohner der Schweiz aufklären können? Völlig unrealistisch!
Ich schliesse mich der Haltung des Abstimmungskomitees «Nein zur Organentnahme ohne Zustimmung» an:
Um sicherzustellen, dass der medizinisch-ethische Grundsatz der informierten Zustimmung («informed consent») gewährt ist, müssten alle Personen in der Schweiz informiert werden, dass sie schriftlich widersprechen und sich in ein Register eintragen müssen, wenn sie ihre Organe nicht spenden wollen. Dass dieses Ziel erreicht werden kann, ist völlig unrealistisch. Es gibt Personen, die die Landesprachen nicht sprechen, die das Gelesene nicht verstehen, die nicht lesen können oder die sich nicht mit ihrem Sterben befassen wollen. Gerade diese sozial Schwachen brauchen den Schutz der Rechtsordnung. Das Risiko, dass diese Personen zu Organlieferanten würden, ohne davon zu wissen oder sich dagegen wehren zu können, steigt unweigerlich.
Es ist inakzeptabel, dass Personen gegen ihren Willen Organe entnommen werden, weil sie zu Lebzeiten nicht wussten, dass sie ihren Widerspruch hätten hinterlegen müssen. Eine Organentnahme gegen den Willen einer Person ist keine Bagatelle, sondern ist Diebstahl respektive – da sie mit einer Körperverletzung einhergeht – faktisch ein Raub. Eine Spende ist nur eine Spende, wenn sie bewusst und freiwillig erfolgt. Die Uninformiertheit, Unaufmerksamkeit oder auch der bewusste Nichtbefassens-Entscheid von Menschen darf nicht ausgenutzt werden.
Ich empfehle Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, sich mit der Vorlage «Änderung des Transplantationsgesetzes», über die wir am 15. Mai 2022 abstimmen, zu befassen, weil sie uns alle betreffen kann. Ich empfehle Ihnen dazu die Argumente des überparteilichen Komitees «Nein zur Organentnahme ohne Zustimmung».