Mit den EU-Parlamentswahlen vom 9. Juni 2024 hätte in Europa ein «politisches Erdbeben» eingesetzt. Die Medien schrieben von einem «Rechtsrutsch» oder dem angeblichen «Sieg der Rechtspopulisten», der Europa «erschüttere».
«Schlusspunkt»-Kolumne von Anian Liebrand, erschienen in der «Schweizerzeit» am 21. Juni 2024
Zweifellos: Vielerorts haben rechte Parteien historische Erfolge erzielen können. In Frankreich holte Marine Le Pens Rassemblement National rund 32 Prozent der Wählerstimmen – ein neuer Rekord. Staatspräsident Macrons Liberallala-Partei sackte derweil von 25 auf 15 Prozent ab. In Österreich legte die FPÖ von Herbert Kickl massiv zu und wurde mit über 25 Prozent Wähleranteil erstmals stärkste Partei bei einer EU-Wahl. Auch in Deutschland, Italien, Lettland oder Holland verzeichneten rechtskonservative Parteien starke Gewinne.
So hat NZZ-Chefredaktor Eric Gujer wohl recht, wenn er in seiner Wahlanalyse schreibt, dass sich «der linksliberale Zeitgeist auf dem Rückzug» befinde. Bei der EU-Wahl hat sich folgerichtig jener Meinungsumschwung manifestiert, der sich in den letzten Monaten und Jahren auf dem ganzen Kontinent abgezeichnet hat. Das woke-linke, alles regulieren und bevormunden wollende Gutmenschentum, das so eng mit der Brüsseler EU-Bürokratie verwoben ist, hat sich überlebt. In Zeiten sich zuspitzender globaler Konflikte und eines nicht endenden Kriegs vor ihrer Haustüre sind sich offensichtlich Millionen von Europäern bewusst geworden, dass die EU zwar jedes Detail ihres Alltags regeln will, aber keinen Plan hat, wie sie die Interessen von Bürger, Wirtschaft und Nationalstaaten in einem Wirtschaftskrieg verteidigt. Viel Palaver, weg vom Bürger, wenig Perspektiven: den EU-Eliten gelingt es immer weniger, dieses Spiegelbild ihrer selbst vor der breiten Öffentlichkeit zu kaschieren.
Dass EU-kritische Parteien vor diesem desolaten Hintergrund zulegen (müssen!), ist nicht überraschend. Von einem «Rechtsruck» zu reden, wäre allerdings völlig vermessen. Noch immer verfügen die EU-treuen «Systemparteien» europaweit über bequeme Mehrheiten. Um unmittelbar eine Kurskorrektur – hin zu mehr Nationalstaat und weniger Bürokratie – einleiten zu können, müssten die rechten Parteien überall viel stärker sein! So ist es zum Beispiel beileibe nichts Aussergewöhnliches, wenn in Deutschland eine AfD erstmals auf rund 16 Prozent der Wählerstimmen kommt. Dass in einem demokratischen Land neben einem linken und mittigen Spektrum auch ein gleich starkes rechtes politisches Lager entsteht, ist Bestandteil eines Normalisierungsprozesses, der sich – auch wenn er lange mit harten Bandagen zu verhindern versucht wurde – nicht mehr aufhalten liess.