Kürzlich äusserte sich ein frisch gewählter kantonaler SVP-Mandatsträger in den Medien, gesellschaftspolitische Fragen seien für die Partei nicht so wichtig.
«Schlusspunkt»-Kolumne von Anian Liebrand, erschienen in der «Schweizerzeit» am 7. Oktober 2022
Jedes Parteimitglied solle sich seine Meinung zur «Ehe für alle», zu Abtreibungen oder anderen Fragen selbst bilden. Die SVP habe sich aus solchen Auseinandersetzungen herauszuhalten.
Etliche jüngere Frauen und solche, die meinen, mit gesellschaftspolitischer Anbiederung an den Zeitgeist könne die SVP in linken Städten punkten, weibeln ebenfalls für einen Umbruch innerhalb der SVP: Weg von den wertekonservativen Wurzeln, hin zur neumodischen Homo-, Trans- und Feminismus-Agenda.
Man kann ob solcher Kurzsichtigkeit nur ungläubig die Nase rümpfen. Kaum ein politisches Feld ist so wichtig wie die Gesellschaftspolitik – die laut Fachdefinition «alle politischen Massnahmen bezeichnet, welche der Formung und Beeinflussung einer menschlichen Gesellschaft dienen.» Was nützt der Kampf gegen Tempo 30-Zonen, wenn sich die SVP gleichzeitig von der «Formung und Beeinflussung der Gesellschaft» verabschiedet und dieses Feld den äusserst gut organisierten Linken überlässt?
In einer Gesellschaft, in der sich sozialistische und antikonservative Haltungen aufgrund der alltäglichen Berieselung durch zeitgeistkonforme Medien, Parteien und Influencer immer stärker festsetzen, wird es für Anliegen der SVP logischerweise immer schwerer, überhaupt noch Mehrheiten zu erlangen. Oder anders gesagt: Wenn wir nicht im Wettbewerb der Meinungs- und Identitätsentwicklung der Menschen mitmischen, kommen wir an sie mit puren Abstimmungsvorlagen gar nicht mehr heran. Wenn wir den «Kampf um die Köpfe» nicht führen, ist auch zweitrangig, wieviel Geld wir für Werbung ausgeben.
Wenn gewisse Exponenten meinen, wir könnten mehr Wahlerfolge erzielen, wenn wir uns darauf beschränken, zuwanderungs- und EU-skeptisch zu sein, schätzen sie die Lage falsch ein. Nichts ist für den Fortbestand einer Nation wertvoller, als für möglichst viele bodenständige, im christlichen Wertefundament verankerte Familien zu kämpfen. In Regionen, in denen konservative Werte – verbunden mit wirtschaftspolitischer Vernunft – tief verwurzelt sind, fallen für die SVP auch die Abstimmungsergebnisse wesentlich besser aus. Das zeigte beispielhaft die knappe Ablehnung der Verrechnungssteuer-Vorlage – die von vielen Stimmbürgern verworfen wurde, die von unseren Kontrahenten «beeinflusst und geformt» wurden.